Pilzkontrollstellen boomen: «Damit können Sie eine ganze Familie vergiften» | Berner Zeitung

2022-10-26 14:32:17 By : Ms. Wendy Wu

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Nach der sommerlichen Trockenheit hat Ende August endlich der ersehnte Regen eingesetzt. Und mit ihm spriessen die Pilze reichlich. Kein Wunder, sind die Pilzkontrollstellen gut besucht. In Biel nehmen vier Experten des Vereins für Pilzkunde Biel und Umgebung täglich von 16.30 bis 17.30 Uhr die Funde der Sammlerinnen und Sammler unter die Lupe.

An diesem Abend ist Jean-Claude Michel, Präsident des Vereins, zusammen mit Vereinsmitglied André Grindat im Einsatz. Bereits vor der Türöffnung stehen die Menschen an der Zentralstrasse 60 Schlange. Ihre Funde tragen sie in Stoffsäckchen und Körben, ganz so, wie es sein muss. Denn nicht ideal ist es, Pilze in Plastiksäcken zu transportieren. Experte Michel erklärt, dass sich darin Wärme staut, die die Pilze verderben lässt – bis zur Ungeniessbarkeit.

«Bei den vielen Pilzen hat es mich wieder gepackt.»

Pilze faszinieren Alt und Jung – das zeigt sich auch an den Anstehenden: Darunter ist ein etwa zehnjähriger Junge mit seinem Vater. Sie sortieren die Pilze nach Arten in Plastikschalen, die Michel und Grindat verteilen. Eine Frau um die 60 erzählt, sie habe vor Jahren einmal einen Pilzkurs besucht, dann aber eine Zeit lang keine mehr gesammelt. Bis sie in diesem Jahr bei Waldspaziergängen die vielen Pilze bemerkt habe. «Da hat es mich wieder gepackt.»

Und nun hat sie eine schöne Ernte mitgebracht: einige grosse Steinpilze, Maronenröhrlinge, Flaschenboviste und Frauentäublinge, alles Speisepilze. Die Dame freut sich bereits auf das geplante Menü: «Ich mache ein Pilzragout an Rahmsauce mit Polenta.»

Nach ihr präsentiert eine junge Frau ihren Fund. Zwei gefüllte Schalen stehen auf dem Tisch vor Grindat und Michel. Einen Pilz um den anderen besehen sich die beiden genau, manchmal nehmen sie eine Lupe zu Hilfe, brechen ein Stück des Fleisches ab, riechen daran. Die Frau sieht gespannt dabei zu. Sie habe erst dieses Jahr mit Pilzlen begonnen. Auch ihr sind die vielen Pilze im Wald aufgefallen: «Ich wollte unbedingt auch sammeln», sagt sie.

Dass dieses Jahr besonders viele Menschen die Faszination für Pilze entdecken, beobachtet auch Jean-Claude Michel: «So viele Anfängerinnen und Anfänger hatten wir schon lange nicht mehr.» Das zeige sich auch an den mitgebrachten Pilzen, sagt Michel: «Sie bringen allerlei Chrüsimüsi.»

Wie die junge Frau: Einen Pilz nach dem andern sortieren die Experten aus – alle sind ungeniessbar. Ein Ragout aus diesen Pilzen wäre der Frau schlecht bekommen. Zwei davon sind besonders gefährlich: «Damit könnten Sie eine ganze Familie vergiften», sagt Michel. Dabei sieht er so schön aus, der Grüne Knollenblätterpilz mit seinem ausladenden, grünlichen Hut.

Schon kleinste Mengen führen zu schweren gesundheitlichen Schäden oder sogar zum Tod. Sammlerinnen wie jener jungen Frau gibt Michel ein Merkblatt mit Tipps auf den Weg und die Empfehlung, sich einem Pilzverein anzuschliessen.

Die Vielfalt von Pilzen ist riesig: In der Schweiz gibt es etwa 6000 Grosspilzarten, also solche, die grösser als fünf Millimeter sind. Daneben existieren geschätzte 12’000 kleine Arten. Die meisten davon sind ungeniessbar. Gut 300 Sorten sind essbar. Was vielen nicht bewusst ist: Pilze sind für die Ökologie von Wiesen und Wäldern unentbehrlich: Sie zersetzen organisches Material wie Totholz, Blätter und Nadeln. So entsteht Humus, fruchtbare Erde.

Auf diese Weise führen Pilze Nährstoffe zurück in den Kreislauf des Ökosystems. Doch das ist noch nicht alles. Wir sehen nur die Fruchtkörper, die Pilze. Der weitaus grössere Teil des Lebens von Pilzen spielt sich unter der Erde ab. In weit verzweigten, feinen Pilzgeflechten – den Myzelien – umspannen sie die Wurzeln von Bäumen und anderen Pflanzen. Dort leben sie in einer Symbiose miteinander, der eine profitiert vom anderen. «Fast alle Pflanzen sind mit Pilzen vergesellschaftet», sagt Andrin Gross. Er leitet swissfungi.ch, das Daten- und Informationszentrum der Schweizer Pilze bei der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft.

Wie Gross erklärt, sind die Pilzmyzelien mit ihren hauchdünnen Fäden besser als Baumwurzeln in der Lage, Wasser und Nährstoffe aus dem Boden zu ziehen. Diese stellen sie den Bäumen zur Verfügung, während die Bäume die Pilze mit Kohlenhydraten aus der Fotosynthese versorgen. Zudem sind Pilze Nahrung für allerlei Tiere wie Insekten, Schnecken, aber auch kleine Nagetiere. Für Gross ist klar: «Ohne Pilze geht es nicht.» Doch deren Lebensräume seien unter Druck: Stickstoff aus Landwirtschaft und Verkehr setzten ihnen zu. Gemäss Gross gelten über 900 Arten als gefährdet. Zudem ist wenig bekannt, dass es auch geschützte Pilze gibt: Zwölf Arten sind für Sammler tabu. Sie sind auf der Website von «swissfungi» zu finden. (bjg)

Die gute Pilzsaison schlägt sich auch bei der Notrufnummer 145 der Stiftung Tox Info Suisse nieder: Bisher sind dieses Jahr rund 70 Anfragen wegen Pilzvergiftungen eingegangen. Das sind doppelt so viele wie letztes Jahr. Wie Colette Degrandi von Tox Info Suisse sagt, geht es bei den Anrufen am häufigsten um zwei Fälle: Entweder, die Leute melden sich, wenn sie nach einer Pilzmahlzeit plötzlich Zweifel befallen, ob die Pilze geniessbar sind oder nicht.

«Bei Knollenblätterpilzen besteht tödliche Gefahr durch Versagen von Leber und Niere.»

«Im anderen Fall schildern die Betroffenen Symptome nach dem Genuss von Pilzen in den letzten Tagen.» Meistens klagen die Anrufenden ihr zufolge über Magen-Darm-Probleme, also Durchfall und Erbrechen oder beides zusammen. Für die Expertin sind besonders jene Fälle schwer zu beurteilen, bei denen die Betroffenen nicht erklären können, welche Pilze sie gegessen haben.

Degrandi: «Bei Knollenblätterpilzen besteht tödliche Gefahr durch Versagen von Leber und Niere, deshalb ist es wichtig, so rasch wie möglich mit der Therapie zu beginnen.» Im Zweifelsfall schickt sie lieber einen Patienten zu viel ins Spital als einen zu wenig.

Doch auch essbare Pilze können unbekömmlich sein. Nämlich dann, wenn sie zu alt sind, wie Experte Michel erklärt. Bei alten Pilzen bilden sich bei der Zersetzung durch Bakterien Stoffe, die Bauchschmerzen verursachen können. Also weg damit.

So landet ein riesiger Steinpilz eines Sammlers im Abfall. Zum Kompostieren sind Pilze laut Michel nicht geeignet: «Sie zersetzen sich schlecht und entwickeln erst noch einen üblen Gestank.» Alte Pilze erkennt man an ihrem bräunlichen Fleisch. Zudem sind meistens Hut und Stiel von Maden befallen.

Manche Pilzarten sind erst nach 20-minütigem Kochen geniessbar. Grund: Die Hitze zerstört die giftigen Stoffe. Andere wiederum muss man vor dem Kochen sogar noch schälen. Bei Pilzen wie dem Schopftintling ist nur der Hut essbar, der Stiel dagegen hart wie Holz. All diese Informationen sprudeln Grindat und Michel nur so heraus. Die beiden sind wandelnde Lexika. Michel, einst Chemielaborant, der sich zum Lebensmittelinspektor weiter ausbildete, hat seine Pilzexpertenprüfung vor 40 Jahren gemacht, wie er sagt.

Heute ist er pensioniert, die Leidenschaft für die Welt der Pilze ungebrochen. Ihm gefalle die Vielfalt der Pilze; sie sind bauchig, trichterförmig, sehen aus wie Schwämme, Trompeten, erinnern an Korallen. Grindat und Michel übertragen ihre Begeisterung auf die Menschen.

Mit grossen Augen lauschen sie den Erklärungen, stellen viele Fragen. Statt einer sind die beiden Experten anderthalb Stunden am Kontrollieren, bis um 18 Uhr die letzte Sammlerin gegangen ist.